Reiste einst die lange Strecke – auch –, um jene Verwandte zu sehen, die etwas Verheißung umwehte – und traf Menschen an, die .. verkleidet waren und nicht sprachen, was mich berührte und anging.

Neues aus dem anderen Meer.

Plötzlich Erinnerung daran, dass es wohltat, Gras auszurupfen samt Wurzeln und Erde. Warum tat das gut? – Weil es ganz auf nicht-gedanklicher Ebene liegt. Weil der Planet Erde damit in Bewegung kam –

Ähnliche Gefühle hatte ich, als der Saft des Pfirsichs über die Wangen quoll.

So etwa musste es auch sein, in die Psychiatrie zu kommen. Ideen von echter Ankunft.

Vielleicht hat das damit zu tun, dass ein ‚unversehrtes‘ Leben zu viele Möglichkeiten hat, und es bei diesen „Gesellschaften ohne Tod“, bei aller Realisierung, im Grunde unerträglich dabei bleibt. Alles scheint offen, was wird eingelöst? Alles scheint versibel, vollständig aufgelöst im Virtuellen. Lauter Glücksmöglichkeiten ohne echtes Glück.

In meinem Kopf sucht es herum, als gäb es noch immer die Geschichte vom Ausweg. Es gibt sie nicht. Ich könnte über Marokko schreiben, über Marrakesch. Ich müsste suchen, im Kopfe. Dass ich suchen müsste, ist bereits die Antwort – auf ungestellte Fragen. Es ist der Befund. Sofern man final zu deuten versteht. Es ist die Tatsache, dass nichts zu finden ist. Ich könnte darüber schreiben, als ich das erste Mal durch Paris gefahren wurde und, ja immer plötzlich, auf zwei ungehörig große Kästen, Bauwerke sah. Sie waren dekoriert mit riesenhaften Nachbildungen von Gemälden. Manet und Monet. Von Monet hatte ich wenigstens gehört, Manet war bis dahin unbekannt geblieben, aber ich ahnte sofort die historische Zeittiefe und was da an Umfang und möglicher Qualität auf einen zukäme. Und zitterte vor Verlust, als der Zugwagen weiterrollte. In diesem Jahr hatte ich ein Angebot erhalten, nochmals – es wäre das zweite Mal gewesen – nach Marrakesch zu kommen. Ich habe abgelehnt, weil ich enttäuscht gewesen wäre. Es hat damit zu tun: Auch in meinem Leben ging einiges verloren, als alles – ein biografischer Paradigmenwechsel – deutlicher und evidenter, es wird gesagt, bewusster wurde. In Marrakesch war ich also vor diesem Paradigmenwechsel, nämlich mit 18. Ich wurde von allem überrascht, aber das war nicht die Hauptsache. Die Hauptsache war, dass es keine Hauptsache gab. Im Ernst: Es war das Chaos ohne Ordnungswille, das regierte. Es war ein Einlassen ohne Kalkül, ohne Absichten, noch einmal daraus hervorzugehen. So betrat ich die Medina. Und weiß nicht mehr, wie ich herausgekommen war. Ich hatte weder gewusst, was „Medina“ war, noch was da auf mich zukam. Ich hätte leicht zu Tode kommen können, da, wo ich überall herumging, bei denen, die mich ins Auge fassten und kurz davor waren, „mich anzusprechen“, aber so etwas antizipierte ich nicht. In kritischen Situationen nahm ich es kurz wahr. Ich vergaß so etwas nicht, erinnerte es noch mal, aber dann nicht mehr. Es macht mir keine Lust, dort einen Stadtplan zu kaufen, muss ich denn? Irgendwie ja. Zumal das Angebot von meiner Partnerin kam, die alles dreimal gesichert haben muss. Da bin ich lieber hier, in dieser scheinbar völligen Sicherheit, und lockere Schraube um Schraube. Das ist es, was mir noch Spaß macht: Kontrollverlust. Ich bin da noch oder wieder am Anfang, nämlich im Stadium kontrollierten Kontrollverlustes. Mit 18, in Marrakesch, war ich im Stadium unkontrollierten Kontrollverlustes. Auch in Amsterdam, insbesondere im Melkweg. Es war mit Drogen verbunden, ja. Im Spiegel der dunklen Teestube im Melkweg sah ich nachts um drei Gesichter, wie ich sie nie mehr sehen sollte. Es lebe dieser Zustand in der Droge! Ich brauchte plötzlich frische Nachtluft. Und sah, dass eine Bamboo-Bar gerade geöffnet hatte, morgens um drei .. Das waren so Eckpunkte, jedenfalls konstellierten sie sich in meinem Bewusstsein als solche, in denen sich wilde Geschichten erfanden oder zusammensetzten und verselbstständigten. Solche erzähle ich hier nicht, was hier steht, soll stimmen. Dabei liegt mir auf den Lippen, dass ich ein glänzender Erzähler war, bevor ich in die karge Zone der Lyrik abrückte. Das Adjektiv ist aber bereits verräterisch, ich konnte, wenn ich gut drauf war, von grenzenloser Selbstüberschätzung sein .. damit hab ich viel erlebt, was sonst nicht der Fall gewesen wäre, oft nichts Gutes. Also korrigiere ich: Bevor ich mich der Lyrik zuwandte, konnte es vorkommen, dass ich zum Erzähler wurde. So wie hier, jetzt, nur wilder, weniger sprachmächtig, dafür im Gefühl, sprachmächtiger als alle zu sein ..... Und ich weiß noch, wie es kam, dass ich mir, bis vor kurzem, ein „Erzählverbot“ auferlegte. Das hat immer damit zu tun, dass existenziell die Sprache verschlagen wurde. Aber ich hab’s im Blut: Meine Urgroßmutter, als es noch kein Fernsehn gab, wurde eigens aus dem Büchelbach in den beliebtesten Gasthof am Ort bestellt, um die Menschen einen Abend lang zu unterhalten. „Aber Muurder“, fragte mal einer, „ist das denn alles wahr, was du da erzählst ...?“ Und sie sagte mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, „Ja, was denkst denn du ...“. Und trank noch einen Schnaps. Tragischer- oder bezeichnenderweise ‚erzählte‘ sie am Ende ihres Lebens noch anderes. Sie erkrankte wohl daran, was dann „Alzheimer“ hieß. Sie hatte nicht wenige Kinder und eine ihrer Töchter saß am Sterbebett und versuchte sich zu erkennen zu geben. Aber Urgroßmutter soll mit fester Stimme gesagt haben: „Ich habe niemals Kinder gehabt.“ Sie war eine sehr souveräne Frau, im Handeln wie in ihren Ansichten, und offenbar nicht ungern allein. Vielleicht war diese Äußerung ihr letzter Schritt gewesen, endgültig und vollständig ihre Ruhe zu haben.