Carl sagte plötzlich, es war 1988, als er in Köln wohnte: »Angestrebt im Alleinsein u. a. die Vertierung des Triebs.

 

Das Allerwidrigste affirmativ werten und in Fluss stoßen.

 

Durch das Hören von Dark Metal geriet alles so in Fluss,

dass feste – unüberwindbar geglaubte – Wundschranken zwischen Menschen aufgehoben werden konnten.

 

Entfernung jeder Moral.

Keine Rücksichtnahme auf Böse und Gut.

Immerzu durchziehen.

 

Keinem Denkimpuls, keiner Stockung folgen, durchziehen – im Sinne energetischer Entwicklung.

 

Unmittelbarkeit

in allem erreichen.

 

Im Dark Metal werden Abgetriebene der Gesellschaft hörbar, ihre krassen Stimmen.

 

Mich interessiert dabei nicht, ob das rechtslastig oder linkslastig ist, sondern was ich daraus ziehe:

 

Im ›Zentrum der Hölle‹ zu agieren.

 

Im Zentrum des Tabus.

 

Die Lust an echtem Fall, echter Zerstörung

im Innern. Entscheidend: im Innern. Es deutet auf Transformation.

 

Verwandlung von ALLEM

in Lust.

 

Es ist die Erschließung des hindernden Pols.

 

Es ist seine glatte Überfahrung.

 

Er wird einfach einkassiert, eingeebnet.

 

Warum macht es Sinn

die ›Hölle‹ zu erschließen

sich in ihr weiter und weiter noch

bewegen zu lernen?

 

Um

weniger verletzlich zu sein, um mehr erleben zu können.

 

Weil

ein Weg ins Licht durch das Dunkel führt.

 

Weil

das Gute allein eine Falle ist, das – nicht hinreichend gewappnet – zu oft vor dem Bösen weicht, zu oft

 

wirkungslos ist.

 

Weil

das vermeintlich Böse nicht selten eine stärkere Anziehungskraft hat.

 

Warum?

 

Weil

es befriedigend ist, das bloße Tier in sich zu leben.

 

Ein Leben zugebracht in ethischen Implikationen

wende ich sie an rechter Stelle schon an.

 

Die Vertierung ist das eine.

Die Mentalität das andere.

 

Ich kann mit einem Zustand der Grenzenlosigkeit, auf den kommt es mir an, umgehen. Weil ich jederzeit, inzwischen, die Grenze

 

setzen kann.«

 

*

 

»Das Böse«, so nahm Carl den Faden beim nächsten Besuch wieder auf:

 

»Nach Baruch de Spinoza ist das Böse das, was die Selbstbehauptung hemmt.

 

Nach Marquis de Sade führt der Böse ein glückliches Verbrecherleben, während die guten unglückliches Opfer werden.

 

Nach Immanuel Kant ist das Böse dem Wesen innewohnend und somit: wesentlich.

 

Emil Cioran meint, ›das viel eifrigere Böse will sich übertragen und erreicht es, denn es besitzt das zweifache Privilegium, faszinierend und ansteckend zu sein‹. 

 

Andrzej Lobaczewskis Politische Ponerologie deutet auf die Entlarvung des Bösen, durchgeführt von einem Kollektiv, das den Einzelnen quält und zugrunde richtet. 

 

 

Und meine Meinung?

 

 

Das Böse – jenseits der Dualismen – ist Lebenskraft, die anstrebenswert ist, wenn sie zu keinen Übergriffigkeiten führt. Von da aus bin ich dafür, die Wertung aufzulösen. Fängt an mit dem Zusatz: das sogenannte Böse.«

 

*

 

»In Sexualität abzutauchen«, so Carl, »war nicht nur im Mittelalter das Böse. Ein Gipfel an Schwachsinn. In Sexualität abzutauchen, gehört zum höchsten Sinn.«   

 

*

 

»Wie Robert sich vom Christentum, von christlichen Institutionen überlisten ließ.

 

Er arbeitete hart, von der Schöpfung vergleichsweise benachteiligt –, von niedriger Intelligenz, das Äußerste schien eine Tätigkeit als Hilfsarbeiter. Und doch nicht benachteiligt, wie niemand, in seiner Natur vollständig und reich. Von seinem Geld legte er eine Pornosammlung an. Sein Zimmer wurde immer voller, schien fast nur noch daraus zu bestehen. Als es entdeckt wurde, wurde er endgültig für unzurechnungsfähig und verirrt erklärt. Er hatte ein beträchtliches Vermögen angespart. Das wurde von einer christlichen Institution vollständig einkassiert; dafür hatte er freies Wohnen in einer Gemeinschaftsanlage, aber dafür hatte er auch den ganzen Tag dort zu arbeiten; das wurde für gut befunden, er selbst wurde nicht gefragt, es wurde für ihn bestimmt.

 

Ich erwähne das, weil er mitunter einen kraftvollen und lebensfreudigen Eindruck machte, bevor er ›abtransportiert‹ wurde, also zu dieser Institution für immer hingefahren wurde. Später, als ich ihn noch einmal sah, hinterließ er bei mir einen eher sonderbaren Eindruck. Weder kraftvoll noch lebensfreudig.

 

Doch der gültigen Definition nach ist er nun bei den Guten.

 

Und dachte noch einmal an Heinrich von Kleist:

 

›Ein jeder hat seine eigne Art, glücklich zu sein, und niemand darf verlangen, daß man es in der seinigen sein soll.‹« 

 

*

 

»Widersprüchlichkeit?« Carl Lichthof antwortete: »Für Hegel war es ›das Prinzip aller Selbstbewegung‹, in aller Bewegung auffindbar, das Grundprinzip alles Lebendigen: ›Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten.‹ Das zu verstehen wäre wichtig. Wofür? Um nicht zu sehr enttäuscht zu werden. Von sich selbst, vom Partner, von allem. Ich weiß seitdem«, so Carl, »woran ich bin.

 

Ich wurde so herangezogen, dass meinen Erwartungen eine gewisse Logik immanent war.

So befand ich mich ›immer‹ in Diskrepanz (in Enttäuschung) von Erwartung und Wirklichkeit.

Die Wirklichkeit, von wem auch verkörpert, war widersprüchlich.

Ich selbst wurde der Widersprüchlichkeit überführt.

Das ist kein Plädoyer für Unzuverlässigkeit.«

 

*

 

»Gibt es den Ausweg? Auch aus dem Bösen? Noch mal Hegel bemüht, frei gesagt: Der Geist sei abhängig von seinem ›Objekt‹. Also von dem, was in jedem Moment in sich selbst auftaucht. Ändere sich das Objekt, ändere sich die Stimmung, der Geist, der Körper, alles. Also große Abhängigkeit.

 

Der ›absolute Geist‹ hingegen unterliegt nach Hegel keinen abhängig machenden Bindungen mehr. Denn es gehe nicht mehr um das Wissen eines ›Gegenstandes‹, sondern um das Wissen des Geistes von sich selbst. So wird er zum freien Geist und zum freien Willen, der sich selbst zum Inhalt hat, und ist in dieser Weise autonom, so weit er es vermag.

 

Das schließt Bezugnahme und Fürsorge nicht aus, aber frei.«

 

*

 

»Ich erkenne so fundiert«, sagte Carl Lichthof, als er noch in Köln wohnte: »Die Gesellschaft, ihre Implikationen waren von vornherein ein Dreck.

 

Von vornherein reingefallen; es war unübersehbar; aber auch ich glaubte zu weitgehend dieser vergleichslos auftretenden Normalität.

 

Der Unmut und der Ekel gegenüber Politik und Wirtschaft und ihren realen Auswirkungen sind grenzenlos.

 

Leben, mein Leben innerhalb dieser Koordinaten kommt mir nahezu vor wie Schrott.

 

Zufriedenheit ziehe ich – zurzeit, immer zurzeit! – aus dieser aggressiven Energie, die mich beweglich, entschieden und so macht, dass es für mich etwas erträglich.

 

Es ist kein Übergangsstadium.

 

Lasst mich in Ruhe mit spiritueller Läuterung, Selbstliebe und Frieden, ich handhabe das schon richtig für mich.«