Ich schreibe seinen Namen, und er wird zu dem Menschen, den ich liebe.

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Edmond Jabès

 

 

 

Marcel sagte eines Abends, »Ich habe das Hinterlassene nun gesichtet, immer wieder, und sorgsam 'ausgewertet'. Und kann, dem Hinterlassenen nach, nun sagen, was Carl – bis hin zu seiner Selbsttötung – quälte.

Im Kern stehen Namen und Ruf.

Bei Carl Namensstigma und Rufmord.

›Die Namensfälschung‹, schrieb Carl, ›verformt mich in ganz kurzen Intervallen bzw.: verformt in ganz kurzen Intervallen meine Nerven.

Sicher, es ist deswegen so, weil ich es gegen meinen Willen so oft erinnere.

Ich gerate also mit diesem kollektiv geschlossen vorgenommenen Rufmord in mir andauernd auf eine andere Hirnbahn, was fatale Auswirkungen hat.

Dort, wo bei mir das Vertrauen in meinen Namen stand, beim Angesprochenwerden, krampft sich das Bewusstsein nun zu einer dunklen verwirrenden Abwehr zusammen. Gegen die ich selbst kaum etwas machen kann.

In der Weise geht nun von mir selbst Irritation aus, wenn ich nur angesprochen werde.‹

 

Im Weiteren«, sagte Marcel, »möchte ich einige ausgewählte Äußerungen von Carl anführen – in der Hoffnung, dass durch sie mehr und mehr ersichtlich wird, worum es geht.

 

Carl«, so Marcel, »schrieb also:

 

›Wenn ich den eigenen Namen am Telefon sprach, sprach ich manches Mal in einen dunkelsten, resonanzlosen Abgrund hinein.

 

Was war das nur für eine Kontaktgrenze, der ich – nun in mir selbst – ausgesetzt war?

 

In was für ein Kontaktgebiet geriet ich da?

 

Diese biochemische Namens-Grenze, an der ich dann war, voll Furcht und erzwungener Unverbundenheit.

 

Welche Aura bekam ich dadurch?

 

Mein innerer Raum fühlte sich erbrochen an.

 

Und es brachen Fragen auf, die ich mir bis dahin nicht gestellt hatte:

 

Was steht im Innern eines Namens?

 

Was schwingt da mit, wenn ein Name gesprochen wird?

 

Beziehungsweise: Wie trifft der eigene Name im Innern eines Menschen ein?

 

Und verstand nun kursierende Sätze noch ganz anders wie z. B.:

 

Die Kraft eines Namens.

 

Indessen setzte es sich auf die unglücklichste Weise fort.

 

Name – Ruf – Be-Ruf.

 

Ich ergriff zunächst einen Beruf, der das Stigma nur fortsetzte.

 

Mit meinem inneren Leben hatte diese Entscheidung nichts zu tun gehabt.

Ich verstehe sie auch heute nicht mehr, diese Entscheidung.

Es zeugt wohl davon, wie irritiert ich war.

 

Es kommen da so 'Bilder', wenn ich daran denke.

 

Sehe mich z. B. frühmorgens in dieser Berufszeit. Wie ein schwerer Sack, aus der Nacht heraus.

 

Etwas, das mich sozusagen gegen die Berufswelt stellte, jedenfalls: alles unendlich schwer dort machte.

 

Ich war immer etwas froh, an solchen Orten, wenn da Raum war für meine innere Welt.

 

Hinzu kam, dass es mir immer schon schwergefallen ist, an einem Ort zu sein, wo andere Regie führen und ich nicht schöpferisch tätig sein kann.

 

Und wie oft erlebte ich an solchem Ort jemand, der getrieben war. Nur auf die nächste Funktionserfüllung hin. Druck machte, obwohl es gar nicht so nötig war und derjenige nur angestellt war. Während mein Blick, etwa in der Morgendämmerung, schon mal einem Vogelflug folgte, was nur ein Beispiel dafür ist, mich auch in Traumregionen aufhalten zu wollen und dabei geistig tätig zu sein.

 

Bei jeder Vorstellung mit dieser Identifikation‹, schrieb Carl, ›die nie meine war, färbte sich mein Atem ungut ein. So nah nahm ich das wahr.

 

Fortan brauchte ich viel Distanz . . . 

 

Aber warum entschied ich mich dafür?

War ich so unterbelichtet?

In so vielerlei Hinsicht, gar nicht.

Ich schwebte noch zwischen den Welten.

Hatte im Grunde nur mein Erleben.

Entweder keine Interessen, die zu einem Beruf hinreichten, oder so stark ausgebildete Interessen, dass sie, mit einem Beruf verknüpft, nicht erreichbar schienen oder mir, als Beruf, auch gar nicht anstrebenswert erschienen. 

Aber, nach dem ersten Rückzug, wollte ich etwas tun.

Eher als nichts in dieser Situation zu tun.

Ich musste etwas nehmen, so fühlte ich es, bei dem ich mich verstecken konnte . . .

Ich hätte so etwas wie eine Auszeit, einen guten geschützten Raum gebraucht. Eine zweckfreie Experimentierzeit.

Und Menschen, die das verstehen.

Und: Hatte überhaupt keine Einstellung dazu, was das eigentlich ist . . . ein Beruf, und welche Folgen das haben könnte und hat.  

 

Manchmal nach dem Überfall stellte ich an mir fest, dass ich mich überspielend verhielt.

 

Was nicht einfach zu erkennen war. Denn ich blieb mir immer in bestimmter Weise treu.

 

Weil dasjenige im Untergrund so zerstörerisch wirkte, wurde mir in gewisser Weise ein Unehrlichkeitscharakter an mir selbst bewusst. So nannte ich das jedenfalls. Dazu muss man wissen, dass mir absolute Ehrlichkeit immer das Wichtigste gewesen ist. Schon als Kind bestand ich darauf. Unehrlich also in welcher Weise? Einfach deswegen: weil ich jene Wahrheit nicht kommunizieren konnte. Es hätte mich zu sehr verunsichert.

 

Davon abgesehen . . . war ich, gerade deswegen, noch wahrheitsorientierter als zuvor. Es ergab sich aus dem, was ich zu erleiden hatte.

 

Und sah, dass auch das zu meiner neuen Situation gehörte: Alles so richtig auf Grund sacken zu lassen war mir, wenn überhaupt, nur noch möglich allein.

 

Das kostet viel Kraft.

 

Und: Von daher kann ich gar keine Würde in Begegnungen erreichen.‹

 

 

 

Ich fand«, so Marcel, »auch den ein und andern zitierten Text in den Aufzeichnungen. Sie passten zu dem, was Carl selbst schrieb. Zum Beispiel dies hier von Nelly Sachs:

 

Atem der inneren Rede

[…]

haucht geheimnisentbundene Beichte

 

Carl galt mitunter als geheimnisvoll, aber er war in innerer Not.«

 

+

 

»›Sehr‹, so Carl, ›litt ich unter den Fehlinterpretationen. Ja, ich hielt zugute: Niemand wusste. Aber auch jenseits der jeweiligen Interpretation, also Umgangs mit dem, was in mir entstand und aus mir wich, war ich selbst darüber erschüttert, was da entstand. Angst entstand da, aber was für eine. Als wäre ich es nun selbst, von dem das Übelwollen ausging. Es war aber nichts als unfreiwillige Übertragung. Im tieferen Innern war ich sehnsuchtsvoll und gut.

 

Und erinnere einen Sonntagmorgen, richtig Regen draußen, es wurde kaum hell, ich lag auf dem Bett, dasjenige erschien so weit entfernt und es tat so gut, in meinem Weichen zu liegen und nahm mich dabei so ganz wahr. Als sei gar nichts geschehen.‹«

 

+

 

»›Der Überfall‹, schrieb Carl, ›hatte Wirkungen, die sich erst allmählich zeigten – so wie eine Zauberkiste, aus der immer weitere und nochmals tückischere Bosheiten zum Vorschein kommen –, jeweils weit davon entfernt, sie auch zu verstehen. So stellte ich zum Beispiel fest, dass sich die Verletzung meldete bei Intimität. So fühlte ich ganz deutlich, dass meine Erektion nachließ, wenn die Verletzung zu Bewusstsein kam. Da ich fürchtete, dass sich das häufe, häufte sich die Furcht. Wie sollte ich das der Freundin, wenn es denn eine gab, erklären?

 

Ich merkte, dass ich dem mit meinem Einfluss auf mich selbst nicht gewachsen war. Etwas stieg nun von unten herauf, um mich außer Kraft zu setzen, ja zu zerstören.

 

So konnte ich nicht frei über mich verfügen. Und auch nicht mehr frei über mein Geschlecht verfügen.  

 

So nahm ich in einer frühen Nacht einmal Ulrike, eine Bekannte, mit im Wagen zu einer Diskothek hin.

Während ich rang, um Kontaktfähigkeit, setzte sie sich mit 4 Jungen nacheinander auf dieselbe Couch der Diskothek und knutschte mit ihnen. Die angehende Diplom-Psychologin.

Ich nahm sie auch wieder mit zurück.

Sie war frei im Innern. Sagen wir: für vieles frei genug.

Ich hätte etwas Zärtlichkeit gebraucht.

Wo war die Gerechtigkeit?‹

 

›Das herz setzt mir aus,

wenn ich bedenke,

wie allein du sein wirst,

 

junge!

(Jan Skácel)‹«

 

+

 

»›Das Nervensystem ist wahnsinnig schwer von Begriff‹, schrieb Carl.

›Was lernt es denn?

Kommt doch immer mit 'demselben'.

 

Dann war die Zeit, in der ich versuchte mich mitzuteilen. Das heißt, ich versuchte wenigstens zu sagen, dass etwas ist. Und merkte, wie unzureichend das war; jedenfalls in einer Weise ankam, die nicht hilfreich war.

 

Ich spürte – nicht nur, aber auch –, dass mir das Gefühl gegeben wurde ›kompliziert‹ zu sein, es kostete Bereitschaft, zeitlichen und inneren Aufwand, ich störte die Unmittelbarkeit des andern Menschen, ich spürte, dass beim andern das Gefühl entstand, zurückstecken zu sollen, wegen mir, das wollte ich nicht. Aber ich brauchte doch einen Weg, um zu vertrauen.

 

Und mir wurde bewusst:

Entweder ich kann ›es‹ sagen und sage es, wenigstens etwas davon

ODER

ich bleibe im Kontakt allein.

Was mich beunruhigte und

todtraurig machte.

 

Parallel zu all dem hörte ich z. B. solche 'Geschichten'. Ein Bekannter sagte einmal, sonst gar nicht ›primitiv‹: ›Er hat sie so sehr gefickt, dass sie bei ihm bleiben möchte.‹

 

Ja ja, ich hatte schon eine Ahnung, was davon zu halten ist. Aber es schmerzte trotzdem, weil ich selbst kam nicht durch, mit meinem Strom, wurde gestoppt, in meiner Unmittelbarkeit, in meinen Wünschen, in meiner Verwirklichung, von unsichtbarer Hand, nur noch in meinem Innern.

 

So entstand womöglich der Eindruck, ich selbst sei an all dem schuld. Jedenfalls hörte ich Vorwürfe.

 

Die Verletzung, so erschien es mir, richtete sich hauptsächlich gegen meine Sexualität und was mit ihr an Wundern zusammenstand. Und wenn man sich die Tat bzw. Handlungen gegen mich ansähe, würde ersichtlich, dass sie darauf zielten, ob es denjenigen bewusst war oder nicht, in gemeinster Weise meine Männlichkeit zu zersetzen.‹«  

 

+

 

»›Was ich dann alles tat‹, schrieb Carl an anderer Stelle weiter, ›womit ich mich alles beschäftigte. Die Liste, dies aufzuzählen, würde lang.  

 

Aber all diese Versuche, wie ich irgendwann erkannte, setzten gar nicht dort an, wo ich etwas brauchte.

 

Ob Bergsteigen, Yoga oder sehr spezielle Literatur, das alles hatte – genau genommen – nichts mit mir zu tun. 

 

Es lief im Kontakt auf einen Auslieferungsprozess hinaus, auf eine Auslieferung an ein vernichtendes Außen. Und zwar so sicher, wie ein Magnet ein Stück Eisen anzieht.‹«  

 

+

 

»›So zart und still.

Und mit so unmenschlichen Kräften in sich selbst zu tun.

 

Zu differenzieren ist leider auch der Täter selbst und die Vorstellung, die ich mir von ihm gebildet hatte bzw. die sich in mir bildet.

 

Gesagt werden kann, dass Selbst-zerstörerischste Vorstellungen zwingend ausgelöst wurden.

 

Ein weiterer Schock war die Ausweitung der Verletzung auf nahe Menschen.

 

Ich konnte plötzlich nicht mehr auf ganz feine und feinste Gefühle reagieren, wie ich es besonders gut gekonnt hatte.

 

Es liegt ein Glück darin, wenn es nicht nötig erscheint, Schutz aufzubauen.

 

Die Verletzung weitete sich immer weiter aus und ich erinnere: Schädigungsraserei.

Ich meine, ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie in meinem Innern Schaden angerichtet wurde.

Wie ein Brand, der sich so viel schneller verbreitet, als er gelöscht werden kann.

Das war dann meine innere Situation.

 

Ich musste viel im Innern tun. Jedenfalls tat ich viel. Und erreichte oft doch keinen Zustand, der etwas Anklang fand oder mir selbst gefallen konnte.

 

So wurde dem Schmerz immer noch mehr angetan.

Ich nahm die Wunde bald wahr als etwas, in das immer noch mehr hineingestochen wurde.

 

Mein Herz wurde mitunter härter.‹

 

›Im wirbelnden Vernichtungsfeuer,

im eisigen Opfer, das nichts verschont

-

(Dag Hammarskjöld)‹

 

›Ja auch das. Ich fing an, immer weniger zu 'verschonen', und traf sicher den ein und andern und immer auch mich! 

 

Heute zog ich in Erwägung, in den Wald zu gehen, mit einer Flasche Wasser, einem Strick und einem schmerzlindernden Mittel.‹

 

Das«, so Marcel, »waren seine letzten Worte, die aufzufinden waren.

 

Am 20. März 2014 brachte sich Carl um. So, wie er es beschrieben hatte.«